Schlagwort-Archive: Existenz

JENES WISSEN

Weit oben, dem Geschehen enthoben, in sich ruhend, tief gelassen,
den Strom, den unruhigen, sich ständig verzweigenden, vereinenden, auseinanderdriftenden, zusammenfliessenden, sich bewegenden und wandelnden und doch irgendwie ruhigen, gleichsam unbewegten, zentrumslosen Strom beobachtend, unbeteiligt zuschauende Beobachterin, nichts wertend, alles sehend, sich immer wieder teilender, träge dahineilender, sich in sanfter Beschleunigung wieder vereinender, aufgewühlt dahinpeitschender, nahezu bewegungslos dahingleitender, von allen Seiten zusammenfliessender, nach allen Seiten auseinanderfliessender Strom, ein endlos fluktuierendes Muster, dessen Zentrum Bewegungslosigkeit zu sein schien, von allen scheinbaren Bewegungen völlig unberührt bleibendes Insichruhen, weder von falsch/richtig noch von gut/schlecht beflecktes würdigendes Gewahrsein, dessen was war, ein mit der Zentrumslosigkeit des Flusses einhergehendes Einverstandensein, panoramablickgeborenes Unverstricktsein, wissend, dass ein einziger besitzergreifender Gedanke genügen würde, dem gnadenlosen Fluß begrenzter Zeit ausgeliefert zu sein, ein einziger Gedanke des Haben- oder Nichthabenwollens und sie würde sich inmitten dieses reißenden, sie unablässig von der Geburt in den Tod und wieder zurück befördernden Stromes der Zeit befinden, verstrickt in die zahllosen Variationen von Freude und Trauer, von Liebe und Haß, von Schönheit und Häßlichkeit, von Erfüllung und Leiden, von Befreiung und Gefangensein … endlos und anfangslos, anfangslos und endlos, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, mächtige Ströme, von linearer oder zyklischer Unentrinnbarkeit … hier und dort, oben und unten, vorher und nachher, einst und demnächst, Himmel und Meer, Wasser und Erde, endloses Spiel der Elemente, nichts falsch, nichts richtig, einfach nur so, einfach nur seiend … und doch nur eine ‚Frage der Zeit‘ bis sie sich ‚unten‘ wiederfinden würde, verstrickt in einen ganz

bestimmten Verlauf des Flusses, verzweigt in eine ganz bestimmte Richtung, davongetragen mit einer ganz bestimmten Geschwindigkeit, ohne Überblick, ohne Weiträumigkeit, ohne Gelassenheit, verfangen in genau jener bestimmten Spur, deren unzählige Einzelheiten sie nun würde verfolgen müssen, sie zwanghaft zerreibend von der Geburt in den Tod hinein, die Reste darüber hinaus in den nächsten Zyklus rieselnd … und doch nur das endlose Spiel von Raum und Zeit, gewürdigt von Wissen, von jenem Wissen, dessen Offenheit alles entschied: ekstatisches, grenzenloses oder frustrierendes, begrenztes Spiel, jenes Wissen, dessen unbegrenzter Raum alle Verstrickungen unverstrickt beließ, jenes unbenennbare Wissen, dessen Soheit alle Fragen in unbegrenzter Unbeantwortetheit erstrahlen ließ, jenes Wissen, dessen Unschuld das ewige Spiel von Frage und Antwort zelebrierte, jenes Wissen, dessen scheinbare Verdunkelung sie nun inmitten dieser bestimmten Spur plaziert hatte, jenes Wissen, das auch genau hier nur seine völlige Offenheit feierte, jenes Wissen, das jede seiner Verdunklungen zuließ, in wohlwissender Gewissheit, dass sie durchschaubar waren für alle, die ihr Nichtwissen völlig akzeptierten, jenes Wissen, das großzügig jede Begrenzung zuließ und ebenso großzügig die Aufhebung jeder Begrenzung gestattete, jenes Wissen, dessen Offenheit sie wieder aus den Begrenzungen jener bestimmten Spur führen würde, indem es deren Grenzenlosigkeit offenbarte, sie jeglicher Notwendigkeit enthebend, in eine andere Spur flüchten zu müssen, deren Verlauf auch nur die Pauschalreise Geburt-Tod-Wiedergeburt wäre, jenes Wissen, das den unaufhörlichen Sieg der Todlosigkeit über die Vergänglichkeit feierte, jenes Wissen, dessen scheinbare Abwesenheit sie sogar die allerbegrenztesten Verhaltensweisen und Einstellungen einnehmen ließ … UND SCHON sah sie sich eingeklemmt und -gequetscht in unbarmherzigen Zyklen bleischwerer Druckkammern, die mit gewohnheitsmäßig überhöhter Langsamkeit fernen Zielen entgegenjagten, Zielen, die immer gerade außerhalb der jeweiligen Reichweite lagen, Zielen, die schon seit Äonen realisiert waren, Zielen, die nie existiert hatten, Zielen, die nur auftauchten, um wieder zu verschwinden, Zielen, die nur dazu dienten, JENES WISSEN aus seiner scheinbaren Abwesenheit in seine nie unterbrochene Präsenz ‚zurückzukatapultieren‘, UND ERHOBENEN HAUPTES schritt die Siegerin durch das Tor der Zeitlosigkeit, die schon immer das Herz jedes Spiels war …

UND SIE SAH eine Gestalt auf der Spitze eines Berges sitzend, eine Gestalt, deren Gedanken auf die Ströme ihres Lebens gerichtet waren, die sich in würdevoller Nichtexistenz endlos aus allen und in alle Richtungen bewegten, eine Gestalt, die spielte, in die Illusion ihrer Existenz verfangen zu sein, eine Gestalt, der die reiche Beschenkung JENES WISSENS bevorstand, selbst nichts anderes zu sein als Zeitlosigkeit, immerwährend und doch nie geschehen … genau jetzt …

(C) Matthias Wiesner Gießen 1999