Meditation in Bewegung – Gehen in Zeitlupe
Diese Bewegungsmeditations- und Selbsterkenntnis-Übung beruht auf der Kum-Nye-Übung „Sein und Körper“ von Tarthang Tulku, auf der Übung „Gehen, ohne weiterzugehen“ aus Tarthang Tulkus „Raum, Zeit und Erkenntnis“-Vision und auf meinen eigenen Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten Übung. Diese Übung kann auch als eine verkörperte Veranschaulichung von Sein und Evolution gesehen werden.
„Die Körperübungen von Kum Nye sind nur die äußere Form einer ganzheitlichen Vision menschlichen Seins. Ihr wahrer Wert liegt in ihrer Fähigkeit, Energie anzuregen, die Körper und Geist in einem Kontinuum von Freude und Wertschätzung miteinander verbindet.“ (Tarthang Tulku)
Ablauf der Übung
Die Übung wird am besten ohne Schuhe oder nur mit Hausschuhen bzw. dünn besohlten Schuhen durchgeführt.
Stell dich aufrecht hin, die Arme entspannt an den Seiten, den Blick geradeaus gerichtet. Atme sanft und ausgeglichen.
Beginne nun sehr, sehr langsam zu gehen. Hebe die Füße jeweils etwa 10 cm an und gehe in Minischritten von maximal 10 cm, eher nur 5 cm. Lasse bei der Abwärtsbewegung die Zehen den Boden zuerst berühren. Gehe so langsam, wie du irgendwie kannst, und dann gehe noch langsamer.
Achte auf deinen Atem, dein Gleichgewicht und die Entspanntheit von Schultern, Brust und Bauch. Spüre das Heben und Senken der Füße und jeden Teil der Bewegungen genau.

Sei dir jeder kleinen Bewegung innerhalb des Bewegungsablaufes bewusst und lasse die Bewegung gleichmäßig sein. Das heißt, du verwendest jeweils nicht mehr oder weniger Zeit für das Heben und Senken sowie die Vorwärtsbewegung des Fußes.
Übe zunächst 20 Minuten lang und gehe in dieser Zeit nur 20 Meter, je nach Räumlichkeit z.B. 4 x 5 Meter.
Wenn du dies einige Zeit geübt hast, gehe das nächste Mal nur 15 Meter in 30 Minuten.
Dies entspricht einer Stundengeschwindigkeit von 30 m, was ungefähr 166 mal langsamer als die durchschnittliche Fußgängergeschwindigkeit ist. Anders ausgedrückt, würde man bei dieser Geschwindigkeit für die üblichen 5 km/h eines durchschnittlichen Fußgängers etwa 167 Stunden brauchen, also eine Woche nonstop.
Wirklich wichtig sind aber bei dieser Übung ganz andere Dinge. Zum einen ist darauf zu achten, tatsächlich zu gehen, also die Füße vom Boden abzuheben und wieder aufzusetzen, und nicht – wie es immer wieder mal vorkommt – zu schlurfen.
Zum anderen geht es natürlich nicht darum, einen Rekord im Langsamgehen aufzustellen, die obige Relation ist nur eine unterhaltsame Zahlenspielerei. Wird die Übung mit einem entspannten Fokus, einer lockeren Aufmerksamkeit durchgeführt, so kann langsam die Erfahrung entstehen, dass der Körper sich von selbst bewegt.
Entscheidend ist hierbei, wirklich in der Erfahrung bzw. die Erfahrung zu sein, den Raum jedes Aspekts der Bewegung auszufüllen oder auszukosten, und damit unser übliches Vorwärtsgerichtetsein zu durchdringen. Stets sind wir „normalerweise“ auf etwas hin orientiert, auf die Erreichung eines Ziels. Wir eilen, hoppeln, humpeln oder jagen die Oberflächen der Erfahrung entlang, wodurch uns die Tiefen und Multidimensionalität der Erfahrung weitestgehend entgehen.
Wir verweilen also bei dieser Übung langsam mehr und mehr in der Erfahrung, die sich so mehr und mehr ausdehnt, ihre oberflächlichen Grenzen durchdringt und einer erweiterten Raum- und Zeit-Erfahrung Platz macht.

VARIATIONEN DER ÜBUNG
Es gibt einige Variationen der Übung die den Aspekt unseres ständigen „Hin zu“ noch mehr herausfordern.
A) Stell dir vor, du hast einen wichtigen Termin und mußt dringend das nächste Verkehrsmittel erreichen, um rechtzeitig da zu sein. Du bist völlig aufgeregt und willst vorwärts hasten, aber dein Körper bewegt sich nur ganz langsam. Versuche synchron das große Aufgeregtsein wie auch die extreme Langsamkeit zu fühlen.
B) Du mußt unbedingt dieses Verkehrsmittel erreichen, aber du kannst nicht mehr rechtzeitig da sein. Du bist aufgebracht und frustriert, weil du nicht erreichen kannst, was du willst. Gehe noch langsamer. Beobachte, wo in deinem Körper Wut und Frustration, Anspannung und Schmerz angesiedelt sind.
Lockere die körperlichen Anspannungen, lass aber den geistigen Aufruhr bestehen. Achte auf deinen Atem. Wie gleichmäßig ist er beschaffen? Du gehst nun ganz schnell, während dein Atem und Geist ruhig und langsam sind
Du gehst nun wieder langsam und ruhig und läßt Körper, Atem und Geist im Gleichgewicht sein. Wie fühlt sich diese Energie an?
